April 2021

Lesen in einer digitalisierten Welt

Lesen wird auch in einer schon recht weit digitalisierten Gesellschaft oft noch mit dem Lesen gedruckter Werke gleichgestellt. Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Lesen und Digitalität, mit der Stavanger-Erklärung von 2019 und einer neuen Studie zum „Lesen im digitalen Wandel“.

Buch mit Leseband

Buch mit Leseband; Bild: Michael Schnell / photocase.de

Neue Medien sind bei ihrer Einführung eigentlich immer mit Misstrauen oder Ablehnung betrachtet worden: seien es nun Bücher, Radio, Fernseher, Computer oder das Internet. Und auch die postulierten Gefahren – zumeist bezogen auf Kinder und Jugendliche – lagen und liegen, bei aller Unterschiedlichkeit der Medien, gar nicht so weit auseinander: Überforderung, Konfrontation mit nicht altersgerechten Inhalten, Ablenkung von den wichtigeren Dingen des Lebens, Sucht bzw. Abhängigkeit.

War es noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht gerne gesehen, wenn Kinder viel in dicken Büchern schmökerten, so wünschen sich gegenwärtig viele Eltern, dass sich ihr Kind mal ein Buch schnappen und es lesen würde – anstatt seine Zeit in digitalen Welten zu verbringen. Dahinter schwingt die Annahme, dass Bücher die Entwicklung der Kinder eher zu fördern imstande seien als Computer und Smartphones.

Unterstützt wird dies, wenn Presseartikel beide Medien gegeneinander ausspielen: Geht es in Studien zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen auch um das Lesen – regelmäßig zum Beispiel in der KIM- und in der JIM-Studie –, so wird in Presseartikeln gern der Vergleich zwischen Büchern und digitalen Medien hervorgehoben: „JIM-Studie – Lieber Spotify und Instagram statt Bücher“[1] hieß es zum Beispiel am 17. Juni 2020 in der Westfälischen Rundschau. Der ZDF.de-Artikel „Jugendliche lesen wieder mehr“[2] bedient bereits in der Überschrift das allgemein vorherrschende Gefühl, dass die Zunahme etwas Gutes sei – und ja, Lesen meint hier grundsätzlich das Lesen von Büchern (auch E-Books) und nicht das Lesen von Artikeln auf Gaming-Websites, von Chatverläufen und Kommentaren unter YouTube-Videos oder Instagram-Beiträgen. Im weiteren Verlauf des Artikels werden außerdem Zu- und Abnahme von Medienzeiten bei Büchern und Computer/Smartphones miteinander in Korrelation gesetzt und nicht kausal begründet.

Besseres Textverständnis bei Büchern?

2019 wurde die sogenannte Stavanger-Erklärung veröffentlicht.[3] Über 130 Wissenschaftler hatten ein Papier unterschrieben, nach dem das Leseverständnis langer Informationstexte bei gedruckten Büchern größer sei als bei Texten auf dem Bildschirm:

„Die Ursache dafür ist das ‚Lesen mit dem ganzen Körper‘. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass nicht nur Auge und Hirn sondern auch die Körperhaltung und das Haptische eines Buches eine Rolle spielen für das Leseverständnis. Papier kann man zurückblättern. Man erahnt anhand des Gewichts in der Hand, wieviel Buch noch vor einem liegt. Oft erinnert sich der Leser sogar daran, an welchem Ort auf einer Seite er eine bestimmte Information gefunden hat. (…) Am Bildschirm fehlt diese Orientierung.“[4]

Philippe Wampfler und Axel Krommer weisen in ihrem Artikel „Lesen im digitalen Zeitalter“[5] auf den problematischen Medienbegriff dieser Erklärung hin, der davon ausgehe, dass es „einen gleichsam neutral-fixierten Textinhalt“ gebe, der sich auf unterschiedlichen Medien (Papier, Bildschirm etc.) abbilden ließe. Dies sei aber nicht der Fall: „Texte [sind] von ihrer spezifischen Medialität nicht zu trennen (…).“ (S. 76)

Als Beispiel führen Wampfler und Krommer die Stavanger-Erklärung selbst an:

„Wer die Erklärung liest, interagiert mit der digitalen Plattform, auf der sie publiziert ist. Diese Interaktion ist nicht linear bestimmt, das heißt es ist nicht festgelegt, wie sie genau abläuft und worin die Interaktion besteht. Mögliche Interaktionen sind der Absprung zu einem anderen Text, das Verbreiten des Links zum Text oder eines Zitates aus dem Text auf einem Social-Media-Kanal, das Hinterlassen eines Kommentars, der Wechsel zur Lektüre des englischen Originals des Textes, das Nachschlagen eines Begriffes etc.“[6]

Digitale Texte unterscheiden sich zum Teil erheblich von Buchtexten, sind allein durch die technischen Möglichkeiten ganz anders aufgebaut und einsetzbar (S. 77) – und erfordern daher auch, zum Beispiel im schulischen Kontext, andere didaktische Mittel (S. 80).

Zu einem ähnlichen Befund kommen dann auch einige Mitunterzeichner der Stavanger-Erklärung, zum Beispiel Yvonne Kammerer vom Tübinger Leibniz-Institut für Wissensmedien. Laut dem FAZ-Artikel „Ein Jahr Stavanger-Erklärung: Wo stehen wir jetzt?“[7] vom 24.01.2020 erklärt sie, dass es, wie das Lesenlernen gedruckter Texte, ein Lernprozess sei, kritisch und verständnisorientiert digitaler Informationstexte zu lesen.

Um dieses Lernen geht es (unter anderem) auch in einer kürzlich veröffentlichten Studie:

Neue Studie: Lesen im digitalen Wandel

Die „repräsentative Bevölkerungsbefragung“ von Stiftung Lesen und AlphaDekade (Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung) hat knapp über tausend Personen ab 16 Jahren nach der Bedeutung des Lesens in ihrem Alltag befragt. Im Fokus standen dabei bildungsbenachteiligte Bevölkerungsgruppen sowie, damit in Zusammenhang, auch mögliche Auswirkungen der Digitalisierung auf das Lesen. Bildungsbenachteiligte Personen werden als Personen mit einfacher Bildung bezeichnet: ohne Realschul- und Hauptschulabschluss (oder ohne Mittlere Reife) oder lediglich mit einem Hauptschulabschluss (oder jeweils vergleichbare Schulabschlüsse).

Einige Ergebnisse im Überblick:

  • 70 Prozent aller Befragten halten Lesen für eine besonders wichtige Tätigkeit.
  • Bei den Personen mit einfacher Bildung ist der Anteil nahezu gleich groß – aber: Er ist in den letzten 3 Jahren deutlich gestiegen (von 61 auf 70 Prozent).
  • Ein etwa gleich großer Anteil aller Befragten bezeichnet auch den Umgang mit dem Computer als besonders wichtig. Anders sieht das bei der Gruppe mit einfacher Bildung aus: Nur gut die Hälfte von ihnen beurteilen dies ebenso. Unter Umständen spielen hierbei Ängste vor der Digitalität mit hinein, denn:
  • 40 Prozent dieser Befragten haben bei der Digitalisierung eher „Befürchtungen“, nur 23 Prozent von ihnen sehen sie eher als „hoffnungsvoll“ an. Viele der erstgenannten Gruppe fühlen sich überfordert, haben Angst, nicht mithalten zu können, fühlen sich wegen der Schnelligkeit der digitalen Medien unter Druck gesetzt.
  • Betrachtet man alle Befragten zusammen, halten sich „Befürchtungen“ und „hoffnungsvoll“ die Waage.

Auch beim Umgang mit der Informationslage zur Corona-Pandemie, die sich immer wieder sehr schnell ändert und in großen Teilen ins Digitale verlagert ist, zeigen sich diese Probleme: Hier fühlen sich besonders die Personen mit einfacher Bildung überfordert und sind unsicher, wie sie wahre von unwahren Informationen trennen können. Auch sind viele Texte auf Websites mit Corona-Informationen in ihren Augen zu lang und zu kompliziert.

Die Studie liefert am Ende ein Fazit in vier Punkten. Der letzte geht auf mögliche Lösungen der zuvor ausgemachten Probleme ein – und dazu bietet der MedienbildungsHUB ein paar Linktipps für weitere Informationen an (siehe unten).

„Für Alphabetisierung und Grundbildung bedeutet dies, gering Literalisierte noch zielgenauer als bisher für konkrete Leseund SchreibAnforderungen im Alltag vorzubereiten. Dabei müssen Leseund Schreibanlässe im digitalen Raum sowie der Umgang mit digital vermittelten Inhalten einen Schwerpunkt bilden. Hier können niedrigschwellige digitale Lernangebote mit konkretem Lebensund Arbeitsweltbezug ein hohes Potenzial bieten.“

Linktipps

Der MedienbildungsHub bietet nachfolgend ein paar Linktipps zu den Themen „Lesen und Schreiben“, „Einfache Sprache“ und „Digitalität und Lesen/Schreiben“:

Grundlagen

  • Bestandsaufnahme: Die LEO-Studie 2018 – Leben mit geringer Literalität
    Knapp über 12 Prozent der 18 bis 64 Jahre alten Deutsch sprechenden Erwachsenen können kürzere Texte nicht lesen und schreiben. Weitere Ergebnisse der Level-One Studie 2018 können in einer PDF-Pressebroschüre nachgelesen werden.
    zur Broschüre
  • AlphaDekade
    Von 2016 bis 2026 dauert die sogenannte Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung, kurz AlphaDekade, in der Bund, Länder und verschiedene weitere Unterstützer Projekte zur Alphabetisierung und Erhöhung der Grundbildung von Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten fördern.
    Informationen zur AlphaDekade
  • Leichte Sprache – Einfache Sprache
    Die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) zeigt in diesem Artikel auf, was unter Leichter und Einfacher Sprache zu verstehen ist und beleuchtet einzelne Aspekte dazu.
    zum Artikel der BpB

Service

  • Service-Seite für Erwachsene mit niedrigen Lese- und Schreibkompetenzen
    Die Seite www.mein-schlüssel-zur-welt.de des Bundesministeriums für Bildung und Forschung informiert über leicht zugängliche Lern- und Beratungsangebote (analog und digital).
    zur Website

Medienkompetenz in einfacher Sprache

  • Medien-Leitfäden in einfacher Sprache
    Von der Bedienung eines Browsers über die Einrichtung einer E-Mail oder eines YouTube-Kanals bis hin zu den ersten Schritten in Instagram: Die Leitfäden der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) erklären diese Themen in einfacher Sprache.
    zu den Leitfäden

Verweise

[1] Katrin Martens: JIM-Studie – Lieber Spotify und Instagram statt Bücher. Online auf den Seiten der Westfälischen Rundschau unter: https://www.wr.de/kids/jim-studie-lieber-spotify-und-instagram-statt-buecher-id229335198.html (vom 17.06.2020, abgerufen am 13.04.2021).

[2] ZDF.de: Studie zur Mediennutzung – Jugendliche lesen wieder mehr. Online unter: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/jim-studie-lesen-jugendliche-100.html (vom 08.12.2020, abgerufen am 13.04.2021).

[3] Eine deutsche Fassung der Erklärung findet sich auf der Website der FAZ unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/stavanger-erklaerung-von-e-read-zur-zukunft-des-lesens-16000793.html?printPagedArticle=true (vom 22.01.2019, abgerufen am 13.04.2021)

[4] Mathias Puddig: Die Digitalisierung verändert das Lesen. Auf den Seiten der Südwest Presse online unter: https://www.swp.de/politik/die-digitalisierung-veraendert-das-lesen.-29435354.html (vom 07.02.2019, abgerufen am 13.04.2021)

[5] Philippe Wampfler und Axel Krommer: Lesen im digitalen Zeitalter. In: Digitale Transformation als Herausforderung für Seminar und Schule (S. 73-84). 2019. Online unter: https://www.researchgate.net/publication/335740390_Lesen_im_digitalen_Zeitalter.

[6] Ebd., S. 75.

[7] Fridtjof Küchemann: Ein Jahr Stavanger-Erklärung: Wo stehen wir jetzt? Online auf der Website der FAZ unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ein-jahr-stavanger-erklaerung-eine-zwischenbilanz-16597467.html (veröffentlicht/aktualisiert am 24.01.2020, abgerufen am 13.04.2021).