Martin Niewendick; Foto: Privat

GRIMME ONLINE AWARD 2023


Zum verschobenen Verhältnis von Medien und ihren Nutzer*innen auf Social Media

Die neuen digitalen Citoyens

Martin Niewendick

Mit den sozialen Netzwerken hat sich auch die Rolle der Medien-Nutzer*innen verändert. Aus eher passiven Konsument*innen von Nachrichten und Beiträgen sind lebendige Communitys geworden, digitale Citoyens, die sich etwa auf Facebook, Twitter oder Instagram aktiv in Debatten einbringen. Das hat auch die Arbeit der Medien grundlegend verändert. Populäre Beiträge werden auf Social Media teils noch Wochen nach der Veröffentlichung kommentiert – mal mehr, mal weniger konstruktiv.

Ein gutes Community-Management wird dadurch für den Onlinejournalismus immer wichtiger. Zum einen, weil es dem eigenen Anspruch, Demokratie zu fördern, gerecht wird. Und weil es am eigenen Image kratzt, das Feedback von User*innen nicht ernst zu nehmen oder Hate Speech und Desinformation eine Plattform zu bieten.

Weil die meisten Medien ihre Inhalte längst vor allem über Facebook, Twitter, YouTube oder Instagram verbreiten, haben sie damit auch die Kontrolle über die Kommentarfunktionen aus der Hand gegeben. Für die Nutzer*innen bedeutet das: Nun können sie nicht nur in Echtzeit unter Beiträgen kommentieren, kritisieren, Lob aussprechen oder sich untereinander austauschen. Auch der filternde Effekt, den etwa der lange Dienstweg eines Leser*innenbriefes an ein Nachrichtenmagazin zeitigt, fällt weg. Aus den Empfänger*innen sind kleine Sender geworden – was den Journalismus online wie analog nachhaltig verändert hat.

In der journalistischen Ära vor Social Media galten klassische TV-Kanäle, Hörfunk und Zeitungen als oft ehrwürdige Institutionen des öffentlichen Diskurses, munitioniert mit Fakten, Thesen und Ansichten, die mindestens bis zum nächsten Morgen ihre Gültigkeit bewahrten. Mittlerweile muss diese einstige Autorität in den Sozialen Netzwerken täglich neu erstritten werden.

All dies hat nicht nur Auswirkungen auf die innere Struktur von Redaktionen, in denen die Online-Ressorts zu den wichtigsten Teilen der Gesamtredaktion gehören. Auch bei der Entscheidung, ob und wann bestimmte Beiträge ihren Weg auf die Plattformen finden, sind viele vorsichtiger geworden: Vor allem kleinere Medien können (oder wollen) sich keine „Nachtschicht“-Redakteur*innen leisten, die auch nachts ein Auge auf die Kommentarspalten haben. Allzu kontroverse Beiträge werden dadurch nicht selten auf den nächsten Morgen verschoben, was wiederum zu Lasten der Aktualität geht.

Ein weiterer Fallstrick sind Shitstorms, bei denen es oft nur eine kritische Masse an Negativkommentaren braucht, um Redakteur*innen ins Rudern zu bringen. Ein überbordender, öffentlich artikulierter Unmut über einen bestimmten Beitrag nötigt mindestens zu einer Stellungnahme, manchmal zur Korrektur, in manchen Fällen zur Löschung desselben.

Welche Dynamiken durch das veränderte Verhältnis zwischen den Medien und ihren Nutzer*innen entstehen können, zeigt ein Beispiel von Anfang des Jahres. Als der Kultursender ARTE eine kurze Dokumentation über den Horrorautor Howard Phillips Lovecraft auf YouTube postete, häuften sich die Kommentare irritierter Fans und Zuschauer*innen. Sie störten sich daran, dass der werkprägende Rassismus und Antisemitismus des 1870 geborenen Literaten in dem Film keine Erwähnung fand.

Daraus entspann sich eine bemerkenswerte Folge von Reaktionen: Kurz darauf ließ das Social-Media-Team von ARTE in der Kommentarspalte wissen, man habe die Kritik zur Kenntnis genommen, sehe dies genauso und werde die Beschwerden an die zuständige Redaktion weitertragen.

Einer der Produzenten der Lovecraft-Dokumentation war allerdings anderer Meinung. In einem später unter dem Video nachgereichten Statement verwehrte er sich gegen die Kritik der User*innen. Lovecrafts Ressentiments seien hauptsächlich in Briefen zum Vorschein gekommen, und ein im Film gefeaturter Experte habe sich mit dem Thema an anderer Stelle hinreichend befasst.

Bei diesem Vorfall konnten Außenstehende live verfolgen, wie direkte Kritik an journalistischen Inhalten von einem Medium aufgenommen, diese intern vorgetragen und am Ende als Stellungnahme zurück an die Nutzer*innen transportiert wird.

Es ist dies die neue Macht der Konsument*innen, die sich auch auf die Arbeit der Journalist*innen auswirkt: Zu viel „schlechte Presse“ kann sich eben auch die Presse nicht leisten.

Aus Mediensicht ist dies verständlich, für die öffentliche Debatte ist es ein Verlust. Gerade bei Themen, welche die Gesellschaft entzweien, kann ein offener, fairer Austausch von Meinungen, ohne vorgelagerte Beschränkungen, konstruktiv sein. Denn es ist vor allem die Erzählung von einer vermeintlichen Unterdrückung der Meinungsfreiheit, welche von radikalen Rändern propagandistisch ausgeschlachtet wird.

2015 demonstrierte die Online-Redaktion der WELT, wie man humorvoll mit Hasskommentaren umgeht. Weil sich immer mehr Verschwörungstheoretiker*innen und Populist*innen in den Facebook-Kommentaren tummelten, gingen die Redakteur*innen in die Offensive: Sie antworteten en masse mit satirischen Punchlines, in denen sie „bestätigten“, Teil der Weltverschwörung zu sein – und gaben so die Kommentator*innen und ihre verqueren Anschuldigungen der Lächerlichkeit preis.

Blogs und reine Online-Formate kennen diese Dynamiken schon länger. Vor allem zu Beginn der Zehnerjahre schossen diese aus dem Boden und mussten entsprechend früh den Umgang mit „direct response“ lernen. Sie sind es auch, die heute eine nicht zu unterschätzende Expertise in die Branche einbringen können. Dem Journalismus und den Nutzer*innen ist es zu wünschen, dass auch klassische Medien auf diese Ressource stärker zugreifen und die Kolleg*innen vermehrt in ihre Prozesse integrieren.

Zum Autor:

Martin Niewendick ist freier Journalist mit Schwerpunkt Politik und Gesellschaft. 2022 wurde er gemeinsam mit Rebecca Sawicki und Joana Rettig für eine Multimedia-Reportage über die bedrohte Demokratie in Polen für den Deutsch-Polnischen Tadeusz-Mazowiecki-Journalistenpreis nominiert.

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Dieser Artikel ist entstanden für die Publikation zum Grimme Online Award 2023. Sie finden die gesamte Broschüre zum Download auf den Seiten des Preises:

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