Februar 2021

TikTok: Wenn es ernst wird in der Spaß-App!

Waschmittel-Pods essen, nachts auf einer Weide Kühe erschrecken, Allergie-Medikamente in einer Überdosis einnehmen – und nun auch noch das tote 10-jährige Mädchen in Italien, das sich mutmaßlich selbst strangulierte bei einer Blackout Challenge. TikTok und seine Challenges sollen laut den Betreibern Spaß machen, und das funktioniert im Normalfall auch. Aber wie kann man die Gefahren gerade für die besonders Schutzbedürftigen, die Kinder, in den Griff bekommen?

TikTok auf dem Smartphone

TikTok auf dem Smartphone; Bild: Grimme-Institut / Michael Schnell

TikTok hat in den letzten Jahren ein nahezu unglaubliches Wachstum zu verzeichnen: Lag Anfang 2018 die Zahl der monatlichen Nutzer*innen noch bei knapp 55 Millionen, stieg die Zahl bis Mitte 2020 auf fast 700 Millionen.[1] Beliebt ist die App vornehmlich bei jüngeren Jugendlichen: Laut der JIM-Studie von 2020, die das Medienverhalten von 12- bis 19-Jährigen untersucht, sind es vornehmlich die Gruppen der 12- und 13-Jährigen und der 14- und 15-Jährigen – und hier vor allem Mädchen –, die TikTok nutzen. Bei den älteren Jugendlichen spielt die App nur eine marginale Rolle. [2]

Anzunehmen ist, dass auch viele Kinder die App nutzen, die das Mindestalter noch nicht erreicht haben.[3] Laut den Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist TikTok in Deutschland erst mit 13 Jahren erlaubt – wenn die die Eltern einverstanden sind. Ansonsten gilt gar die Volljährigkeit als Mindestalter.

Problem dabei: Viele Eltern kennen diese Altersangaben nicht und/oder sehen in TikTok keine Gefahr für jüngere Nutzer*innen. Schließlich wirken sie auf den ersten Blick harmlos, die Filmchen mit Kinder und Jugendlichen, die ihre Lippen zu mehr oder minder bekannten Song-Schnipsel bewegen oder bestimmte Tänze nachahmen. Wenngleich diese eher auf Spaß ausgerichteten Formen der kurzen Clips (TikToks genannt) noch immer überwiegen, hat sich doch in den letzten Jahren Neues entwickelt: TikTok ist ernster und auch politischer geworden, wie der Deutschlandfunk am 25.01.2021 berichtete:

„Seitdem sich Menschen im vergangenen Jahr via Tiktok dazu verabredet hatten, einen Wahlkampfauftritt von Donald Trump zu boykottieren und Tickets dafür zu buchen, die dann nicht genutzt wurden, spricht man von einer Politisierung der Plattform – auch wenn es bis heute nicht geklärt ist, ob Tiktok dort wirklich eine entscheidende Rolle gespielt hat.“[4]

Und tatsächlich finden zunehmend – und oft recht plakativ, was auch an der Kürze der einzelnen Clips liegt – Debatten über aktuelle Themen statt: über die Corona-Pandemie, über Mobbing, Gewalt und sexuelle Beleidigungen.[5] Oft sind auf TikTok „die User selbst die Nachricht“[6], mittlerweile suchen vermehrt auch Institutionen wie die Tageschau (@tagesschau) oder heise.de (@heise.tippstricks) den Weg zu den jungen Nutzer*innen.

Man kann diese Abkehr vom reinen Spaßfaktor unterschiedlich bewerten: als zu begrüßende Versachlichung einzelner Themenbereiche oder als Professionalisierung oder professionelle Vereinnahmung einer Social-Media-Plattform, die die eigentlichen Inhalte mehr und mehr verdrängten und die Plattform für junge Menschen weniger reizvoll erscheinen lässt.
Weitaus kritischer zu sehen sind aber folgende Phänomene:

  • Inhaltliche Kontrolle oder gar Zensur?
    Netzpolitik.org berichtete im Dezember über exklusive Einblicke in die Moderation der App und kam zu dem Schluss: „TikTok betreibt ein ausgeklügeltes System, um Inhalte zu identifizieren, zu kontrollieren, zu unterdrücken und zu lenken.“ Nicht genehme TikToks werden in Kategorien eingeteilt, so dass sie nicht mehr oder nur weit abgeschlagen im Newsfeed der anderen Nutzer*innen auftauchen – oder sie werden ganz gelöscht. Kurz: „Die Kontrolle über das, was Menschen auf TikTok sehen, liegt vor allem in der Hand des Unternehmens.“ Zu diesen Vorwürfen hat netzpolitik.org am 26.11.2020 unter dem Artikel eine Stellungnahme seitens der TikTok-Betreiber veröffentlicht.[7]„Homosexuelle, Autisten, Dicke – das Portal TikTok hat zugegeben, die Reichweite von Videos mit ‚besonderen Menschen‘ absichtlich begrenzt zu haben“, berichtete Tagesschau.de am 16.12.2020. Die Betreiber begründeten dies mit Maßnahmen gegen Mobbing, gestanden aber ein, dazu „einen falschen Ansatz gewählt“ zu haben.[8]
  • Jugendgefährdende Inhalte / Challenges
    Challenges sind bei TikTok sehr beliebt und gelten als eines der Mittel, um seinen Kanal bekannt zu machen. Sie sind meist recht harmlos, was dem Spaßfaktor der App entspricht: Mal gilt es, einen bestimmten Tanz möglichst perfekt nachzuahmen, mal bestimmte ‚Künste‘ des Haustiers vorzuführen, mal ein schmackhaftes Frühstück fantasievoll zuzubereiten. Doch es gebe, so WDR.de, auch Challenges, die scheinbar lustig daherkommen, in der Durchführung aber gefährlich sein können.[9]Gesundheitsgefährdend können auch vermeintliche Beautytipps sein: Volle Lippen dank Erektionscreme versprach ein TikTok-User in einem Clip, der millionenfach abgerufen wurde. Offensichtlich probierten etliche junge Leute dies aus. Ärzte rieten strikt davon ab.[10]

Und damit wieder zurück zu dem 10-jährigen italienischen Mädchen – und zur Schuldfrage: Die App selbst hat nichts Böses an sich, ebenso wenig wie Computerspiele, Messenger oder das Internet. Vorgeworfen wird, laut dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, aber dem TikTok-Betreiber die bei vielen Apps zu beobachtende Möglichkeit, sich trotz schriftlich festgelegter Altersbegrenzung schon als 9- oder 10-Jähriger TikTok auf dem Smartphone installieren und nutzen zu können. Italiens Regierung fordert nun gerade dies bei TikTok ein: „Der Datenschutzbeauftragte Guido Scorza sprach am Sonntag von möglichen Millionen-Strafen gegen Tiktok, wenn das Unternehmen das Alter der Nutzer nicht besser kontrolliere.“[11]

Ein Ultimatum wurde gestellt – und TikTok reagierte schnell, wie die FUNKE Medien am 05.02.2021 vermeldeten: mit „Bestürzung“, aber auch der Ankündigung, dass „die beliebte Plattform (…) ab dem 9. Februar den Zugang für alle Nutzer blockieren und erst nach Eingabe der Geburtsdaten wieder freigeben wolle, so die italienische Datenschutzbehörde Garante. Wer jünger als 13 Jahre sei, soll keinen Zugriff mehr auf das Nutzerkonto haben. Dabei gilt diese Altersgrenze bei Tiktok schon länger.“ Hinzu soll nun „verstärkt mit künstlicher Intelligenz“ geprüft werden, wer jünger als 13 Jahre alt ist: „Durch eine Analyse der hochgeladenen Videos und durch das Verhalten im Netz.“[12]

Fachleute weisen allerdings nicht erst seit TikTok darauf hin, dass technische Maßnahmen allein keine hinreichende Sicherheit im digitalen Raum schaffen. Hierfür müssen alle Beteiligten eingebunden werden: Regierung, Betreiber, das soziale Umfeld, Schule und Eltern. Dabei sollte die Vermittlung von (Medien-)Kompetenzen im Vordergrund stehen, einhergehend mit einer engen Begleitung der Kinder. Vertrauen schaffen ist besser, als Verbote auszusprechen – aber ein paar Regeln dürfen trotzdem sein, für Kinder ebenso wie für die Eltern.

Noch Fragen?

Eltern finden auf Plattformen wie dem Internet-ABC, schau hin, klicksafe und handysektor vielfältige Informationen, Lehrkräfte auch gute Unterrichtsmaterialien bei Internet-ABC und klicksafe. Ein gemeinsamer Vertrag zur Mediennutzung kann unter www.mediennutzungsvertrag.de angefertigt und abgeschlossen werden.

Verweise

[1] Aniko Milz: TikTok gibt erstmalig Nutzerzahlen bekannt. Online bei OnlineMarketing.de unter https://onlinemarketing.de/unternehmensnews/tiktok-nutzerzahlen-mau (vom 25.08.20, abgerufen am 08.02.2021).

[2] Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM-Studie 2020. Online: https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2020/JIM-Studie-2020_Web_final.pdf, S. 36 (abgerufen am 08.02.2021).

[3] Das war laut der KIM-Studie von 2016 bei WhatsApp und Facebook, die das gleiche oder ähnliche Mindestalter wie heute TikTok vorschrieben, auch schon der Fall. (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: KIM-Studie 2016. Online: https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2016/KIM_2016_Web-PDF.pdf (abgerufen am 08.02.2021).

[4] Brigitte Baetz: Junge User nutzen die Videoplattform für politische Statements. Online beim Deutschlandfunk unter https://www.deutschlandfunk.de/die-politisierung-von-tiktok-junge-user-nutzen-die.2907.de.html?dram:article_id=491485 (vom 25.01.2021, abgerufen am 08.02.2021).

[5] Siehe dazu z. B. den TikTok-Kanal der Schauspielerin Sarah Alles (@sarah_alles). (Abgerufen am 08.02.2021).

[6] Brigitte Baetz / Deutschlandfunk (siehe oben).

[7] Markus Reuter und Chris Köver: Gute Laune und Zensur. Online bei Netzpolitik.org unter https://netzpolitik.org/2019/gute-laune-und-zensur/ (vom 23.11.2019, abgerufen am 08.02.2021).

[8] Tagesschau: TikTok räumt Diskriminierung ein. Online: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/tiktok-diskriminierung-101.html (vom 16.12.2020, abgerufen am 08.02.2021).

[9] Oliver Scheel: Gefährliche Tiktok-Challenges: Wie rede ich mit meinem Kind? Online bei WDR.de unter https://www1.wdr.de/nachrichten/tiktok-gefaehrliche-challenges-kinder-eltern-100.html (vom 28.01.2021, abgerufen am 08.02.2021).

[10] Sabine Winkler: Vor diesem TikTok-Trend warnen jetzt sogar Ärzte. Online bei Welt.de unter https://www.welt.de/kmpkt/article225059413/Volle-Lippen-Vor-diesem-TikTok-Trend-warnen-jetzt-sogar-Aerzte.html (vom 02.02.2021, abgerufen am 08.02.2021).

[11] RND/dpa: Nach Tod einer Zehnjährigen: Wie gefährlich ist Tiktok wirklich? Online bei RND.de unter https://www.rnd.de/digital/tiktok-madchen-10-stirbt-nach-internet-challenge-wie-gefahrlich-ist-das-soziale-netzwerk-SEMIQNANHOCWLLKZQOBIG2W44Y.html (vom 24.01.2021, abgerufen am 08.02.2021).

[12] Metin Gülmen: Tiktok: Nach Tod einer Zehnjährigen! Italien verschärft Regeln – zieht Deutschland jetzt nach? Online bei derwesten.de unter https://www.derwesten.de/panorama/vermischtes/tiktok-deutschland-italien-verbot-alter-sicherheit-donald-trump-china-id231494623.html (vom 05.02.2021, abgerufen am 08.02.2021).