Christian Bartels; Foto: Achim Steffenhagen

GRIMME ONLINE AWARD 2023


Orientierungssuche im Internet der 2020er Jahre

Von allem zu viel?

Christian Bartels

Das Internet ist jung im Vergleich zu allen anderen Medien-Infrastrukturen und hat trotzdem viele Wandlungen hinter sich. Nicht nur, dass der zeitweise mächtig vorherrschende Glaube, das Netz befördere automatisch Demokratie, Wissen und alles andere Schöne, zurückgewichen bis ins Gegenteil umgeschlagen ist. Zum Beispiel der Hyperlink. Die Möglichkeit, alles per Link in den eigenen Text reinzuholen und interessierten Leser*innen zu ermöglichen, ungefiltert die Original-Quelle zu lesen, hören oder sehen, ist für die meisten Nachrichtenportale längst wieder obsolet. Sie verlinken nur noch eigene Seiten, weil das zur Suchmaschinenoptimierung beitragen und in der Konkurrenz aller mit allen um dieselbe Aufmerksamkeit helfen soll.

Die dem Instagram-Gründer Kevin Systrom zugeschriebene Äußerung, dass Menschen sich lieber Fotos anschauen als Text, hat sich dadurch relativiert, dass Apps statt unbewegter längst bewegte Bilder bevorzugen, weil Menschen sich die noch lieber anschauen (und weil es die Verweildauer erhöht). Der ebenfalls zutreffende Gedanke, dass Menschen noch lieber hören (oder der, dass man das auch beim Autofahren und Kochen tun kann, da also noch Mediennutzungszeit zu holen ist), setzte die Podcast-Welle in Gang.

Insofern gilt das „Riepl’sche Gesetz“ von 1913, demzufolge kein Medium vollkommen verschwindet, weiter. Im Internet fließt alles einfach zusammen. Längst nerven auch in Portalen text-basierter Presseverlage bewegte Werbefilme. Auf immer kleineren Geräten, mit denen alle im Prinzip alles sowohl konsumieren als auch produzieren können, gehen Zusammenwachsen und Fragmentarisierung Hand in Hand. Am besten funktionieren in den 2020ern Plattformen, die alles aufnehmen und nach geschäftsgeheimen Regeln in jeweils individuelle Reihenfolgen gießen. Seien es private Katzen- oder Essensfotos oder -filme. Seien es Texte, die am nächsten Tag auch in gedruckten Zeitungen erscheinen. Seien es Sätze von Fernseh-Talkshow-Gästen, die immer öfter vor allem gesagt werden, um online geteilt zu werden – gern werden sie dann übrigens wieder in Nachrichtenportalen gebündelt, die „Trends“ beobachten und ihre Artikel mit spektakulären Talkshow-Aussagen anreichern können, ohne dass jemand zeitraubend ganze Sendungen ansehen muss.

All das heißt auch: Weite Teile der in der Summe immer noch größeren Medien-Produktion bekommen knapp über null Aufmerksamkeit, weil die Plattformen am besten triggern und daher alle deren Regeln oder dem, was davon bekannt ist, folgen.

Diese laufenden Entwicklungen groß zu bewerten, muss nicht sein, schon weil sich alles dynamisch weiter verändert. Das hat Nachteile, wie sich in der Netzpolitik zeigt, deren schwerfällig zustande kommende Gesetze den Entwicklungen immer noch weiter hinterherhinken. Es hat Vorteile, etwa dass Innovatives sich weitgehend ohne gesetzliche Einschränkungen entwickeln kann. Als sogar größten Facebook-Fans schwante, dass der Konzern sich mit Instagram und WhatsApp genug Macht und Reichweite sowie ständig weiterwachsendes Datenmaterial zusammengekauft hatte, um seine Vormachtstellung auf Jahre zu zementieren, hätte sich kaum jemand eine noch intuitivere und bewegtere Bilder-App aus Asien ausmalen können, die global noch schneller wachsen und die Vormacht so aushebeln würde. Ob es sonst noch Vorteile hat, dass viele Daten außer in die USA auch noch zu TikTok nach China fließen, steht auf einem anderen Blatt.

Im Internet stoßen – aus werblichen Gründen veröffentlichten Zahlen zufolge – stündlich 30.000 Stunden neu auf YouTube raufgeladene Videos und 60.000 täglich auf Spotify neu veröffentlichte Songs auf fast alles, was die Menschheit jemals kulturell erzeugt hat. (Auch wenn aus vielen früheren Jahrhunderten weniger überliefert ist als von einzelnen Tagen der Gegenwart.) Dass andererseits Filterblasen (von denen manche sagen, es gebe sie doch gar nicht) oder Algorithmen, die jeder und jedem das „relevanteste“ versprechen, Übersichtlichkeits-Eindruck erzeugen, ist, falls nicht selbst ein Problem, dann auch kein Teil einer Lösung. Das ist verdammt unübersichtlich.

An Medienkritik mangelt es in der deutschen Medienlandschaft nicht. Natürlich bemühen sich viele um vergleichenden Überblick. Und tun das naturgemäß im Rahmen der eigenen Medienform, der jeweils genutzten Geräte und der aufwendbaren Medienzeit. Fernsehen versucht den Umstieg von linearen in nonlineare Abrufangebote hinzukriegen (und eine gewisse Wiedererkennbarkeit zu erhalten). Zeitungen, von denen es in Deutschland noch immer viele unterschiedliche gibt, orientieren sich an Portalen anderer Zeitungen (und versuchen online vor allem, nichts auszulassen, was bei dieser Konkurrenz gut zu klicken scheint).

Darunter leiden leider insbesondere hybride Formen, die alle Möglichkeiten des Netzes spezifisch nutzen. Der arg altmodische Begriff „Multimedial“ wird kaum mehr benutzt. Die Grenzen zwischen Medienformen sind ja nicht erst in diesem Jahrzehnt verschwommen. Und da kommt der Grimme Online Award ins Spiel.

Aberhunderte Vorschläge kommen von Anbietern wie Nutzern aller Online-Formen. In Nominierungskommission und Jury treffen oft sehr unterschiedliche Blickwinkel aufeinander und bemühen sich seit je um Gewichtung. Nicht zu viele Videos, nicht zu viele Podcasts. „Nicht zu viel Scrollytelling“ heißt es eher nicht mehr, sondern: noch etwas davon. Gerade diese Form zeigt, wie sich das Beste kombinieren lässt: schöne oder aussagekräftige Fotos (bei denen Unbewegtheit mehr hermacht), Audio (das ohne gefühlten Zwang zu vermeintlich attraktiver Bebilderung oft mehr überzeugt) und Video mit schriftlichem Text (zu dessen Vorzügen zählt, dass man ihn im eigenen Tempo lesen kann) – und die vergessene Selbstverständlichkeit, dass alle Quellen vollständig zur Verfügung stehen. Solche Formen, die sich kaum in knappe, gefällig bewegtbebilderte Teaser gießen lassen, drohen im Plattform-dominierten Internet der 2020er unterzugehen. Dabei fasziniert das Internet auch, weil es viel mehr Möglichkeiten bietet als die jeweils populärsten Plattformen und Apps für sich nutzen. Das zu zeigen, gelingt dem Grimme Online Award ziemlich oft.

Zum Autor:

Christian Bartels, Mitglied der GOA-Jury, schreibt vor allem für die Online-Medienkolumne Altpapier (mdr.de/altpapier), die sich seit dem Jahr 2000 um Überblick über die Medien-Entwicklung bemüht.

Foto oben: Achim Steffenhagen

Dieser Artikel ist entstanden für die Publikation zum Grimme Online Award 2023. Sie finden die gesamte Broschüre zum Download auf den Seiten des Preises:

Meldung zur Publikation und Download